Was die Schlachttiere empfinden, wenn sie dumpf zusammengepfercht im Viehwagen dahinrollen — ich weiß es aus Erfahrung.

Ein gutes Ende kann dies nicht nehmen, fühlen die Tiere instinktiv, so wie das angefangen hat: Vom heimischen Hof geführt — mit Knüppeln und Geschrei sind dann die Treiber in ihren schweren Schaftstiefeln über die zwischen den Barrieren dichtgedrängten Rücken getrampelt, und wer in seiner Angst auszubrechen suchte, wurde gnadenlos zusammengeschlagen. — Gewiß — die Weide — auch nicht immer schön gewesen. Heiße Sonne — wenig Schatten — Durst —. Im Frühjahr peitschte der eiskalte Wind von See oft tagelang, nächtelang den Regen waagerecht, und wir standen schutzlos, gleichgerichtet alle, ihn mit dem Kopf zu empfangen, so still, wie jetzt — aber frei. Gut war der Stall. Warm vertraut der Geruch, bekannt die Nachbarn, ihre Stimmen, ihre Gewohnheiten — ach, und jetzt — — man müßte schreien — — wenn nur niemand anfängt, zu schreien. — — — Nein — auf unserm Transport nach Theresienstadt fing niemand an, zu schreien. Uns trat auch keiner in den Rücken, wie ich es elf Monate zuvor noch im Hof der Schule an der Sternschanze gesehen hatte, wenn die Alten nicht schnell genug die hohen Klapptritte an den Mannschaftswagen der Polizei erklimmen konnten.
Der Chef des Judenderzernats der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Hamburg, „Herr“ Göttsche, der uns mit seinem Stab das Abschiedsgeleit gab, zeigte sich mehrere Nuancen undienstlicher als gewöhnlich. Keine Filmkameras surrten, keine umgehängten Photo-Apparate machten Privataufnahmen von hübschen Helferinnen, von Elendsgestalten auf dem Bahnsteig oder von Tragbahren mit sterbenden Greisen. Es war ja vergleichsweise auch gar nichts los heute. Ein kleiner Transport von 108 Seelen nur. Aber mit diesem kleinen Transport, der die letzten Mitarbeiter der Gemeinde und die letzten Betreuten entführte, sahen die Beamten vom Judendezernat ihr Arbeitsgebiet in der Heimat entschwinden und die Front für sich in gefährliche Nähe rücken. Und das war es, was sie erweichte.
Die gelockerte Haltung war schon bei der Abwicklung der Formalitäten spürbar geworden. Wir konnten die letzte Nacht in unserm eignen Bett verbringen und wurden nicht, wie bisher üblich, Tage vorher eingesammelt und unter Verschluß gehalten. Mehrere Gesichtspunkte mögen dafür maßgeblich gewesen sein. Die früheren Transporte ließen einen Gemeinde-Apparat zurück, der, wenn auch mehr und mehr geschwächt und dezimiert, doch immer wieder aktionsfähig gemacht worden war. Es gab noch Großküchen, die die Verpflegung solcher Menschenansammlungen durchführen konnten, es gab genügend freiwillige Helfer, die Tag und Nacht Dienst taten. Wie das immer wieder geschafft wurde, ist ein Wunder an Organisation der Gemeindeleitung und an Einsatzwilligkeit ihrer Mitglieder. Aber mit uns war der Rest dran. Niemand war mehr da, der für uns hätte sorgen können, wir mußten unsre Beerdigung selber durchführen. Seit dem 11. Juni standen wir zudem unter Hausarrest, der sich auf den Komplex Beneckestraße 2—6 erstreckte. In diesen gemeindeeigenen Häusern waren die verstreut in Hamburg wohnenden Juden seit September 1942 zusammengezogen. […] An diesem 11. Juni 1943 hielt es der Hamburgische Staatsrat Dr. Leo Lippmann nicht mehr für der Mühe wert. Man fand ihn und seine Frau in tiefem Schlaf, und sie wollten nicht mehr zu dem Leben erwachen, das sie für sich voraussehn konnten. Vorher aber machten sie unter anderen meiner Schwester und mir ihren Abschiedsbesuch und trugen uns Grüße auf an ihre Freunde Dr. Heinrich Wohlwills in Theresienstadt — falls wir sie treffen würden.
[…]

Track 2, 00:00-01:16

Auf dem abgelegenen Güterbahnhof, dem „Hannöverschen“, der schon Schauplatz vieler Judentransporte gewesen war, an dem wie unheimliche Schattenspiele im nächtlichen Dunkel herzzereißende Begebenheiten und menschenunwürdige Szenen vorübergezogen sind, begann für uns das Abenteuer, aus dem noch niemand zurückgekehrt war. Aber es begann im hellen Licht eines heiteren Sommertages, wie unsre Stadt nicht viele kennt. Die Güterwagen, die uns einschluckten, vergalten der Sonne ihr Licht mit einem warmen Aufleuchten ihres mattroten Anstrichs. Unbarmherzig in der klaren Luft bot sich der Zug der Träger dar, die über den leeren Bahnsteig unsre bettlägerigen Kranken, unsre ältesten und nicht Transportfähigen zu den notdürftig als Liegewagen eingerichteten Waggons trugen. Sauber hergerichtet, wie vom Leichenwäscher, ein letztes Mal pfleglich betreut, verschwanden sie hinter den Schiebetüren, entschwanden sie ihren „arisch versippten“ Verwandten, die sie hilflos begleiteten, und waren einem Schicksal ausgeliefert, das „Verhungern“ heißen sollte.
[…]

Track 2, 03:15-04:07

Die Gestapoleute verabschiedeten sich von den beiden Kollegen, die uns begleiten sollten. Ganz allein und uns am nächsten stand Dr. Plaut, Dr. Max Plaut, der Chef der Gemeinde. Seit vielen schweren Jahren befand er sich nun schon im vollen Beschuß sowohl von Seiten der Gestapo wie der Gemeindemitglieder. Er war der Prellstein zwischen den Fronten. Ihn trafen die Nachrichten von Aktionen, Transporten, Verhaftungen zuerst, er hatte sie weiter zu geben an die Betroffenen. Er empfing Befehle und mußte sie ausführen. Tag für Tag, wenn er zum Rapport zu „Herrn“ Göttsche ging, wußte er, wußten wir nie, ob er wiederkehren würde. Dabei war es ihm ergangen wie allen Überbringern böser Neuigkeiten, man legte sie ihm zur Last.
[…]

Track 3, 00:00-00:36

Die Türen wurden zugeschoben. Der Transport war abgefertigt. Wir merkten, daß wir fuhren. — In diesem Augenblick — am 23. Juni 1943 — endete die altehrwürdige Tradition der Hochdeutschen Israeliten-Gemeinde zu Altona, und die der hochangesehenen und reichen Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg.
[…]

What the slaughter animals feel when they roll along dully crammed into the cattle truck – I know it from experience.

This cannot end well, the animals know instinctively, considering how it has begun: Led from the home farm – with cudgels and shouting the drivers in their heavy stock boots then trampled over their backs crowded between the barriers, and whoever tried to break free in fear was beaten up mercilessly. – Certainly – the pasture – has not always been pleasant either. Hot sun – little shade – thirst – . In the spring, the ice-cold wind from the sea often whipped the rain horizontally for days and nights, and we stood defenseless, all facing the same direction to be hit by it head on, as still as now – but free. The stable was good. Warm and familiar the smell, familiar the neighbors, their voices, their habits – ah, and now – – one should scream – – if only no one starts screaming. – – No – on our transport to Theresienstadt no one started to scream. Nor did anyone kick us in the back, as I had seen eleven months earlier in the courtyard of the Sternschanze school, when the old people could not climb quickly enough up the high folding steps on the police team cars.
The Chief of the Jewish Department of the Gestapo, State Police Headquarters Hamburg, “Herr” Göttsche, who gave us our farewell escort with his baton, appeared several shades more off-duty than usual. There were no film cameras whirring, no photo cameras hung around necks taking private pictures of pretty helpers, of miserable figures on the platform or of stretchers with dying old people. Comparatively speaking, there was nothing going on today. Only a small transport of 108 souls. But with this small transport, which took away the last employees of the congregation and the last people in their care, the officials of the Jewish Department saw their area of work in the homeland disappear and the front come dangerously close for them. And that was what softened them.
Their more lenient attitude had already become noticeable in the handling of the formalities. We were able to spend the last night in our own bed and were not, as had been customary up to then, collected days before and kept under lock and key. Several aspects may have been decisive for this. The earlier transports left behind a congregation apparatus which, although increasingly weakened and decimated, had been made capable of action time and again. There were still large kitchens that could cater for such crowds, and there were enough volunteers on duty day and night. How this was managed repeatedly is a miracle of organization on the part of the congregation leadership and of the willingness of its members to serve. But when it was our turn, the rest were also taken. There was no one left to take care of us, we had to organize our own funeral. Since June 11, we were also under house arrest, which extended to the Beneckestraße 2-6 complex. Since September 1942, the Jews living in Hamburg had been gathered in these houses, which belonged to the congregation. […] On this June 11, 1943, Hamburg State Councilor Dr. Leo Lippmann no longer thought it worth the trouble. He and his wife were found in a deep sleep, and they did not want to wake up to the life they had foreseen for themselves. Before that, however, they paid their farewell visit to my sister and me, among others, and asked us to give their regards to their friends, Dr. Heinrich Wohlwills, in Theresienstadt – in case we should meet them.
[…]

Track 2, 00:00-01:16

At the out-of-the-way freight terminal, the “Hannöversche[r] [Bahnhof],” which had already been the scene of many transports of Jews, where heartbreaking events and inhumane scenes had passed like eerie shadow plays in the nightly darkness, the adventure from which no one had yet returned began for us. But it began in the bright light of a cheerful summer day, such as our city does not know many. The freight cars that swallowed us requited the sunlight with a warm glow of their matte red paint. The procession of porters, who carried our bedridden patients, our oldest and immobile ones, across the empty platform to the wagons, which had been provisionally outfitted as couchettes, was merciless in the clear air. Cleanly prepared, as if by a mortician, looked after with care for the last time, they disappeared behind the sliding doors, vanished out of sight from their “Aryan” relatives who helplessly accompanied them, and were at the mercy of a fate whose name is “starvation.”
[…]

Track 2, 03:15-04:07

The Gestapo men said goodbye to the two colleagues who were to accompany us. All alone and closest to us was Dr. Plaut, Dr. Max Plaut, the head of the congregation. For many difficult years he had been under extreme pressure from the Gestapo as well as from the members of the congregation. He was the curbstone between the fronts. He was the first to receive news of actions, transports, and arrests, and he had to pass them on to those affected. He received orders and had to carry them out. Day after day, when he went to report to “Herr” Göttsche, he never knew, we never knew, whether he would return. In the process, he was like all bearers of bad news: he was blamed for them.
[…]

Track 3, 00:00-00:36

The doors were pushed shut. The transport was dispatched. We realized that we were leaving. – At that moment – on June 23, 1943 – the time-honored tradition of the High German Israelite Congregation in Altona, and that of the highly respected and wealthy German Israelite Congregation in Hamburg, came to an end.